Rainer Will im Interview: "Der Handel hat keinen Goldesel." © Der Juwelier/Stephan Doleschal
Im Interview mit Der Juwelier, geht Rainer Will, Geschäftsführer des Handelsverbands, auf die aktuelle Wirtschaftslage und die Chancen des krisengebeutelten Einzelhandels ein. Er zeigt sich überzeugt, dass der Einzelhandel die Kraft hat, die Situation gut zu überwinden.
Hintergrund des Gesprächs waren zwei soeben veröffentlichte Konjunkturberichte: den WIFO-Konjunkturbericht August 2023 und den „Konjunkturreport Einzelhandel“. Das Bild ist nicht rosig. WIFO-Chef Gabriel Felbermayr twitterte, dass Vorsicht geboten sei. Das sieht auch Rainer Will, Geschäftsführer des Handelsverbands.
Es gäbe allerdings, so Will, Grund zu vorsichtigem Optimismus. Zwar erwarten laut jüngster Händlerbefragung für heuer 46 Prozent der Betriebe voraussichtlich einen Verlust zu erwirtschaften, für 2024 wird jedoch auf Grund steigender Reallöhne von einer Verdoppelung der Konsumnachfrage oder umgerechnet einem Plus von 1,8 Prozent ausgegangen. Den Rücken sieht er in den durchgängig hohen Werten des Vertrauensindex der Bevölkerung in die Handelsbranche gestärkt. Das sei eine Wertschätzung für die im Handel tätigen Unternehmen und ihre 625.000 Beschäftigten. Denn so Will, die Branche ist von großer gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Es gelte daher die Rahmenbedingungen für Unternehmen zu verbessern. Mit Blick auf den Arbeitskräftemangel sieht er das Vermeiden einer „Generation geringfügig“ als Priorität.
DERJUWELIER.AT: Inflation, Energiekrise und Lieferschwierigkeiten und damit verbunden ein real sinkendes verfügbares Einkommen sorgen für schlechte Stimmung. Kaufentscheidungen fallen sehr bewusst. Ist es tatsächlich nur ein Stimmungstief oder sind wir in einer schleichenden Rezession?
RAINER WILL: Unser jüngster “Konjunkturreport Einzelhandel” hat gezeigt, dass sich die Abkühlung der internationalen und heimischen Konjunktur auch im Einzelhandel deutlich widerspiegelt. Wir hatten den neunten Monat in Folge kein reales Wachstum – und das bei anhaltend hohen Kosten für Energie, Personal, Logistik sowie in der Beschaffung. Auch die Stimmungsindikatoren der Unternehmen haben sich zuletzt verschlechtert.
Es gibt aber auch Grund für vorsichtigen Optimismus. Der Tiefpunkt im Konsumentenvertrauen wurde schon im September 2022 erreicht, seither steigt die Konsumstimmung wieder schrittweise. Vor allem die Erwartung an die allgemeine wirtschaftliche Lage in den kommenden Monaten hat sich verbessert. Die Richtung stimmt, aber Geduld ist gefragt.
DJ: Wie ist die aktuelle Situation aus Ihrer Sicht einzuschätzen?
WILL: Unsere Handelsbetriebe befinden sich aufgrund der Teuerung in einer Zwickmühle. Laut unserer jüngsten Händlerbefragung werden heuer fast 46% der Betriebe voraussichtlich einen Verlust erwirtschaften. Einerseits geben die Kunden weniger aus, andererseits bleibt die Kostenseite fast unverändert hoch. Dennoch agieren unsere Händler weiterhin inflationsdämpfend im Sinne der Konsumenten und raufen ums wirtschaftliche Durchkommen.
Handel ist Evolution
DJ: Welche Faktoren schlagen besonders durch?
WILL: Neben Strom- und Gaspreisen sind die Energiepreise in den Produkteinkaufskosten nach wie vor starke Treiber. Inflationsgebundene Aufwände wie Miete und Pacht belasten ebenso wie der hohe Leitzins die Liquidität und Kapitalstruktur, was gerade den Mittelstand und KMU-Händler stark herausfordert. 41% haben bereits eine deutliche Erhöhung der Kredittilgungsraten aufgrund der Zins- und Gebührenerhöhungen seitens der Banken wahrgenommen.
Umso wichtiger wäre es, jetzt die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern, um einer Rezession entgegenzuwirken. Der Reformstau, die Abgabenbelastung und der Bürokratiedschungel gefährden die Wettbewerbsfähigkeit und mittlerweile auch die Überlebensfähigkeit unserer Branche, es besteht seitens der Politik sofortiger Handlungsbedarf.
DJ: Sie meinen damit die gesamtheitlichen Effekte?
WILL: Ja, denn die Reaktionen des Handels, um die schwierige Lage zu managen, führen zu Effekten in der Gesamtwirtschaft. Wenn jeder zweite Händler einen Investitionsstopp verhängt und fast ein Viertel einen Expansionsstopp ausruft, dann hat das auch Auswirkungen auf die Bauwirtschaft und die Einrichter. Wenn 48% der Geschäfte Werbeausgaben reduzieren, hat das Effekte auf die Werbewirtschaft. Daher ist es wichtig, einen konstruktiven Weg aus dem Dilemma zu finden, indem Rahmenbedingungen für die Wirtschaft verbessert werden, bis sich die Kapitalmärkte beruhigen. Insbesondere am Arbeitsmarkt sowie bei den Kosten- und Abgabenbelastungen muss nachgebessert werden. Ein Beispiel: Laut dem Retail Restrictiveness Indicator der EU-Kommission ist der Handel in Österreich im europäischen Vergleich am zweitstärksten reguliert. Nur in Frankreich ist die Überregulierung noch schlimmer ausgeprägt.
DJ: Wie ist ihr Ausblick auf die kommenden Jahre? Wie wird sich die Branche verändern?
WILL: Eines ist klar: Das veränderte Konsumverhalten ist längst Realität. Denn wenn wir über Handel sprechen, dann müssen wir auch über die Digitalisierung sprechen. Das ist eine Herausforderung für unsere Branche – aber auch eine große Chance! Zentrale Trends sind neben der Digitalisierung, die KI ,Big Data, Nachhaltigkeit und die zunehmende Verschränkung von eCommerce und Social Media.
DJ: Wird der digitale Handel den stationären Handel verdrängen?
WILL: Alles, was digitalisiert werden kann, wird bekanntlich auch digitalisiert. Ich bin aber überzeugt davon, dass die Zukunft im Omnichannel-Handel liegt, der das Beste aus beiden Welten verbindet: online und offline. Sichtbarkeit ist heute entscheidend. Wenn Sie als Händler Ihre stationären Geschäfte schließen, sinken mittelfristig auch Ihre Online-Umsätze, weil der Konsument Ihre Marke vergisst. Daher wird es den stationären Handel auch in 20 Jahren noch geben. Er wird nur viel stärker auf die Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten sein – „Customer Centricity“ lautet die Devise. Die Geschäfte werden zu digitalen Schmuckstücken ausgebaut. Der Ladenbau integriert digitale Elemente wie Smart Mirror, digitale Preisschilder, Endless Aisle, AR & VR-Elemente sowie Social Media- und Live Shopping-Installationen.
„Der Handel hat keinen Goldesel im Geschäft“
DJ: Merkt der Handel bereits das veränderte Konsumverhalten und sinkende Frequenzen in den Geschäften?
WILL: Ja, im ersten Halbjahr 2023 sind die realen Umsätze im Lebensmittelhandel um -1,9%, jene im Non-Food-Handel sogar um -5,4% zurückgegangen. Laut unserem HV-Konsumbarometer haben zwei von drei Konsumenten ihre Ausgaben im zweiten Quartal 2023 eingeschränkt. Lediglich 13% geben an, sich bei ihren Ausgaben gar nicht einzuschränken. Fast jeder Fünfte muss sich zurzeit ausschließlich auf den Kauf lebensnotwendiger Güter beschränken.
DJ: In den vergangenen wirtschaftlichen Schieflagen waren jene Unternehmen und Unternehmer die Gewinner, die sich nicht versteckt haben und die Initiative ergriffen haben. Ist nicht gerade die jetzige Situation auch so eine Chance?
WILL: Richtig, jede Krise bietet neue Chancen. Besonders erfreulich für uns ist, dass der neueste Vertrauensindex des Forschungsinstituts OGM hohe Vertrauenswerte für den heimischen Handel aufweist. Der Vertrauenssaldo, also die Differenz aus positiven und negativen Antworten, ist für ausnahmslos alle Handelsbranchen deutlich positiv. Das zeigt die Wertschätzung der Bevölkerung für unsere 625.000 Beschäftigten.
DJ: Welche Strategien sind aus Ihrer Sicht für eine positive Zukunft des Einzelhandels und der Branche notwendig?
WILL: Wenn wir über Handel sprechen, dann müssen wir auch über die Digitalisierung sprechen – den wichtigsten Megatrend der letzten 20 Jahre. Zurzeit gibt es eine ganze Reihe von technologischen Innovationen, die das Potential haben, unsere Branche in den kommenden Jahren fundamental zu verändern, sei es Künstliche Intelligenz, Big Data, das Metaverse oder das Internet der Dinge. Jeder zwölfte österreichische Handelsbetrieb hat bereits KI-Lösungen im Einsatz, ein weiteres Viertel wird noch heuer entsprechende Anwendungen implementieren. Wir erwarten nicht weniger als eine technologische Revolution, die ein personalisiertes, ultraflexibles Einkaufserlebnis für alle Kunden ermöglicht. Trotz aller Chancen und Potentiale muss man hier natürlich auch die Risiken für unsere Gesellschaft im Auge behalten
DJ: Welchen Zug sollte die Branche nicht verpassen?
WILL: Handel ist Evolution – in kaum einer Branche gibt es derartig viele Weiterentwicklungen, neue Formate, innovative Technologien. Die rückläufige Entwicklung der Handelsflächen in den letzten fünf Jahren ist beispielsweise ein stiller Zeuge unserer veränderten Konsumgewohnheiten. Die Pandemie und aktuell die Teuerungskrise befeuern diesen Strukturwandel.
Die Entlastung des Faktors Arbeit ist das beste Investment in die Zukunft.
DJ: Das persönliche Einkaufserlebnis ist also weiterhin geschätzt. Wie bringt ein Handelsunternehmen beide Welten ertragreich in Einklang?
WILL: Ein echtes Einkaufserlebnis lässt sich nicht einfach durch ein paar Klicks ersetzen. Der moderne Konsument will Abwechslung, Genuss, Unterhaltung, Inspiration, kurz: Shopping mit Wow-Effekt. Gerade in Zeiten der Digitalisierung müssen klassische Stores mehr bieten als eine gute Warenauswahl oder erstklassiges Verkaufspersonal. Der stationäre Handel funktioniert zwar immer noch dort am besten, wo er sich auf seine etablierten Tugenden besinnt: ansprechende Produktinszenierung, kompetente Beratung und personalisierte Kommunikation. Das ist aber nur die Pflicht. Die Kür bildet eine zeitgenössische, innovative Store-Gestaltung. Neuartige Shop-Konzepte sorgen dafür, dass der Einkauf zu genau dem Erlebnis wird, das wir uns alle erwarten – was wiederum die Markenbindung ankurbelt.
DJ: Stichwort Direktvertrieb: Wie sehen sie explizit die Situation bezüglich der voranschreitenden Öffnung von Monobrandstores?
WILL: Ich kann schon nachvollziehen, warum viele Hersteller mit Monobrandstores ihr eigenes Label pushen und Own-Retail-Erträge erwirtschaften wollen. Es gibt aber auch unzählige Beispiele in Österreich die belegen, dass dieses Konzept kein Selbstläufer ist. Es müssen so viele Faktoren zusammenspielen, damit diese Strategie erfolgreich sein kann. Ohne starke Markenbekanntheit und eine gute Lage ist so ein Projekt zum Scheitern verurteilt, weil die Kundenfrequenz fehlt. Die meisten Konsumenten bevorzugen die umfassendere Auswahl eines unabhängigen Multi-Label-Stores. Bei Top-Brands wie Apple oder Swatch machen Monobrand-Flagship-Stores in den Innenstädten aber punktuell Sinn. Auch die klassischen Händler in der Umgebung können von der zusätzlichen Kundenfrequenz profitieren.
Wir müssen eine ‚Generation geringfügig‘ vermeiden.
DJ: Thema Fachkräftemangel: Ein akutes Thema?
WILL: Absolut. Aktuell sind fast zwei Drittel aller Handelsbetriebe vom Arbeitskräftemangel betroffen, 6% mussten deshalb im letzten halben Jahr bereits einzelne Geschäfte temporär schließen. Die Zahl der offenen Stellen, die nicht zeitnah besetzt werden können, liegt im Einzelhandel bei 14.700. Daher setzt sich der Handelsverband weiterhin vehement für eine umfassende Arbeitsmarktreform ein. Der dringende Umsetzungsbedarf zeigt sich in fast jedem Betrieb.
DJ: Welche sind Ihre zentralen Forderungen?
WILL: Wir müssen eine ‚Generation geringfügig‘ vermeiden und dem Arbeitskräftemangel aktiv entgegenwirken. Dafür brauchen wir bessere Rahmenbedingungen und Anreize, um arbeitslose Menschen nachhaltig ins Erwerbsleben zu integrieren. Arbeit muss sich wieder lohnen. Zudem muss die Vollzeitarbeit attraktiviert und gezielt belohnt werden, denn diese Personen tragen am meisten zum Sozialsystem bei. Selbstverständlich sind dabei Betreuungssituationen nach oben oder unten, die eine Vollzeittätigkeit verhindern, mitzuberücksichtigen.
Hinzu kommt: Österreich ist bei den Lohnnebenkosten EU-weit Nachzügler. Kaum wo in Europa zahlen Unternehmen so viel für ihre Beschäftigten, ohne dass es den Angestellten selbst bleibt. Und abgesehen von Belgien und Spanien ist es in keinem anderen europäischen Land finanziell unattraktiver, seine Arbeitszeit auszuweiten als in Österreich. Wenn eine Teilzeitkraft die Wochenarbeitszeit um 50% ausweitet, steigt der Nettolohn in Österreich nur um 32%. In Schweden sind es hingegen bei gleicher Ausweitung 44%. Daher gilt es den Faktor Arbeit zu entlasten, das ist das beste Investment in die Zukunft.
DJ: Danke für das Gespräch!
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